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Leere.

  • Daniel
  • 12. Juli
  • 3 Min. Lesezeit

Wie geht es dir? Eine einfache Frage mit oft komplexer Antwort. Zwischen Zufriedenheit und innerem Aufruhr liegt ein stilles Ringen um Balance. Dieser Text gibt leisen Gefühlen Raum, jenseits von Floskeln und vorschnellen Etiketten.

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Würde man mich fragen, wie es mir geht, würde ich antworten: Gut. Und das stimmt. Objektiv betrachtet geht es mir gut. Angesichts der komplexen Welt, in der wir leben, bin ich privilegiert: Ich bin gesund, getragen von Familie und Freunden, beruflich und privat angekommen. Ich darf träumen, gestalten, frei sein: In meinen Gedanken, in meiner Meinung, in meinen Entscheidungen. Und doch. Die Frage „Wie geht es dir?“ ist selten eine Einladung zum echten Gespräch. Meist bleibt sie eine höfliche Floskel, deren Antwort längst vorprogrammiert ist: „Gut, danke. Und dir?“. Aber was, wenn die Wahrheit leiser, vielschichtiger, schwerer greifbar ist? Die ehrlichere Antwort wäre: Ich weiss es nicht genau. Da ist eine Ambivalenz, ein Vakuum zwischen dem, was ist, und dem, wie es sich anfühlt. Es fällt mir schwer, dafür ein Wort zu finden. Kein Adjektiv beschreibt exakt diesen Zustand. Diese Mischung aus Erschöpfung, innerer Aufruhr, Schwermut, Zufriedenheit, Müdigkeit und dem Gefühl, dass etwas fehlt, ohne es benennen zu können, was es ist. Manchmal erscheint mir mein Spiegelbild wie eine Hülle. Ich sehe mich. Und doch auch nicht.


Der Schweizer Musiker Remo Forrer beschreibt in seinem Lied „Full 180“ genau dieses Gefühl: den inneren Sturm, das Chaos im Kopf, die Rastlosigkeit des Herzens. Seine Worte haben mich berührt, weil sie versuchen, dem Unsagbaren eine Stimme zu geben. Ich bin 34. Vieles habe ich erreicht. Vieles, worauf ich stolz sein darf. Und dennoch tauchen sie auf, diese stillen, schwermütigen Gedanken. Sie kommen nicht laut, aber eindringlich. Es ist ein paradoxes Gefühl: zufrieden und doch leer. Angekommen und gleichzeitig suchend. Vielleicht ist es das, was der Philosoph Søren Kierkegaard als die Angst vor der Freiheit bezeichnete. Nicht als Angst im klassischen Sinn, sondern als ein Schwindelgefühl vor der Weite des Möglichen. Wenn alles möglich ist, woher weiss ich, was mir wirklich fehlt? Es fühlt sich an wie das Schweben zwischen zwei Welten: Die eine ist geerdet, voll von Sinn, Struktur, Dankbarkeit. Die andere ist flüchtig, sehnsuchtsvoll, melancholisch. Die Schwerkraft zieht mich auf den Boden und gleichzeitig weiss ich, dass über den Wolken der Himmel hell ist. In mir tobt ein leiser Sturm. Gedanken kreisen, rauben Schlaf. Und doch, irgendwo in dieser Unruhe, liegt auch Leben: roh, echt, menschlich.


Es fühlt sich an wie ein Balanceakt. Ein bewusstes Pendeln zwischen der Schwere und der Leichtigkeit des Lebens. Traurig sein dürfen, ohne sich darin zu verlieren. Die dunklen Gefühle zulassen, ohne ihnen das ganze Feld zu überlassen. Es erfordert Mut, sich dem eigenen Inneren zu stellen. Nicht zu fliehen, nicht zu betäuben, sondern dazubleiben. Immer wieder spüre ich, wie wichtig es ist, Emotionen nicht nur zu fühlen, sondern sie auch benennen zu können. Worte schaffen Bewusstsein. Und doch scheint es, als hätten wir verlernt, diese feinen inneren Nuancen zu erkennen, geschweige denn, sie auszudrücken. Heute ist vieles schnell eine Depression. Dabei gibt es ein ganzes Spektrum an Empfindungen zwischen seelischer Gesundheit und psychischer Erkrankung: Angst, Sorge, Wehmut, Schwermut, Überforderung, temporäre Erschöpfung, das Gefühl innerer Zerrissenheit. Diese Zustände sind zutiefst menschlich. Sie gehören zum Leben, wie das Licht zum Schatten. Ich beobachte, wie oft diese feinen Zwischentöne untergehen und wie wenig Raum wir ihnen geben. Vielleicht, weil wir Angst davor haben, schwach zu wirken. Vielleicht, weil unsere Gesellschaft Leistung, Funktionieren und Positivität über alles stellt. Dabei ist das differenzierte Fühlen kein Zeichen von Schwäche, sondern von innerer Reife. Der Philosoph Martin Heidegger sprach davon, dass der Mensch in ein „Geworfensein“ hineingeboren wird: In eine Welt, die er nicht gewählt hat, mit Gefühlen, die er nicht immer kontrollieren kann. Und doch liegt im bewussten Erleben und Annehmen eine Möglichkeit zur Freiheit. Menschen, die an einer Depression leiden, brauchen und verdienen professionelle Begleitung, Verständnis, Tiefe. Doch es wird ihnen nicht gerecht, wenn wir jedes Gefühl der Schwere vorschnell unter dasselbe Etikett stellen. Das tut weder ihnen gut noch uns selbst. Vielleicht wäre es an der Zeit, uns wieder eine Sprache der Seele zu schenken. Eine Sprache, die Platz hat für das Zarte, das Komplexe, das Unklare. Eine Sprache, die erlaubt zu sagen:„Ich bin heute nicht ganz bei mir – aber ich bleibe da.“ Oder: „Ich fühle mich erschöpft, traurig und trotzdem bin ich lebendig.“ Denn zwischen der Dunkelheit und dem Licht liegt das, was uns menschlich macht: Das ehrliche Ringen um unser inneres Gleichgewicht.


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