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Grenzen.

Innehalten zwischen politischen Stürmen, gesellschaftlichem Wandel und den stillen Bildern der Natur. Was können wir aus den Sollbruchstellen der Natur lernen? Sollbruchstellen als Grenzen, die nicht trennen, sondern neues Wachstum möglich machen.


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Es ist einer dieser Sonntagmorgen. Und ich frage mich: Was, um Himmels willen, passiert da gerade? Die Arbeitswochen sind meist geprägt von Sitzungen, Terminen, Projektarbeit. Die Abende sind voll mit Verpflichtungen aus dem Vereinsleben, Treffen mit Freunden, Zeit mit der Familie oder dem Partner. Nachrichten konsumiere ich schon lange nur noch gezielt und fokussiert. Vielleicht auch bewusst limitiert. Häppchenweise. Allein schon, um nicht überwältigt zu werden. Der Sonntagmorgen ist daher schon länger zu einer kleinen Oase des bewussten Nachrichtenkonsums geworden. Und die Sonntagszeitung zu meiner Lieblingslektüre avanciert. Einerseits, weil sie haptisch ist. Das Rascheln der Seiten, das Gewicht in den Händen. Andererseits entschleunigt sie. Das Lesen folgt einem Rhythmus, der nicht getrieben ist von Algorithmen oder Schlagzeilen, die um Aufmerksamkeit buhlen. Hier gibt es Texte, die Raum lassen. Texte, die Ruhe und Konzentration einfordern. Gedanken dürfen sich ausbreiten. Reifen. Schweifen. Ich fühle mich selbstbestimmt, wenn ich auswähle, was ich lese und in welcher Reihenfolge. Diese Freiheit hat etwas Befreiendes. Und doch. Gerade in diesen Minuten und Stunden des Lesens spüre ich keine Leere. Vielmehr eine Ohnmacht. Besonders, wenn ich die gesellschaftspolitischen Teile aufschlage. Ich lese, welche Entwicklungen wir als Gesellschaft durchlaufen. Wie Oberflächlichkeit wichtiger wird, wie alles schneller, lauter, greller wird. Gleichzeitig wird so vieles individualisiert. Und dennoch sickert eine kollektive Stimmung durch, die uns alle berührt. Ich lese von politischen Grundsätzen, die nicht nur infrage gestellt, sondern von einigen wenigen Akteuren – bewusst wähle ich hier die männliche Form – radikal umgestaltet werden. Grenzen werden überschritten, als gäbe es sie nicht mehr. Und die Welt schaut zu.


Wohin führt uns das alles? Gerade an einem Sonntagmorgen, wenn es stiller ist, wenn draussen Herbstregen gegen die Scheiben prasselt und der Wind Blätter durch die Luft wirbelt, tauchen diese Fragen auf. Drinnen ist es warm, gedämpftes Licht legt sich wie eine Decke über den Raum. Draussen, wenn ich durch das Fenster blicke, sehe ich die Blätter fallen. Sie lösen sich an der Sollbruchstelle vom Ast. Ein zarter, natürlicher Bruch. Und gleichzeitig ein Versprechen: Im nächsten Jahr wird Neues wachsen. Dieses Bild bleibt in mir. Die Sollbruchstelle als Grenze, die die Natur zieht. Nicht willkürlich, sondern notwendig. Vielleicht sollte ich lernen, meine eigenen Sollbruchstellen zu erkennen. Grenzen, die ich ziehen darf, ja ziehen muss. Brüche, die nicht nur Verlust bedeuten, sondern Raum für Neues schaffen. Und so frage ich mich: Wo brauche ich in meinem Leben Sollbruchstellen, um den politischen und gesellschaftlichen Stürmen gelassener zu begegnen? Wie gelingt es mir, gelassen zu bleiben. Gelassen, aber nicht gleichgültig? Vielleicht bedeutet Gelassenheit nicht, passiv zu sein, sondern vielmehr, einen inneren Standpunkt zu haben, der mich trägt. So wie der Baum seine Blätter loslässt, ohne sich selbst zu verlieren. Ich frage mich, welche „Blätter“ ich in meinem Leben loslassen darf: alte Gewohnheiten, überholte Ansprüche an mich selbst, Erwartungen anderer, die mich belasten. Sollbruchstellen können auch Schutz sein. Eine Einladung, nicht alles mit mir geschehen zu lassen, sondern bewusst zu entscheiden, was bleiben darf und was gehen soll. In der Natur ist jeder Bruch zugleich ein Teil des Kreislaufs. Der Ast bleibt, das Blatt fällt, und der Baum sammelt seine Kräfte für das kommende Jahr. Könnte ich lernen, meine Brüche ebenso zu sehen? Nicht als Ende, sondern als Übergang? Vielleicht liegt in jeder Sollbruchstelle auch eine Chance zur Wandlung. Denn Philosophisch betrachtet sind Grenzen keine Mauern, sondern Schwellen. Sie markieren einen Moment, in dem das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht ganz sichtbar ist. Eine Sollbruchstelle ist also nicht nur ein Riss, sondern auch ein leiser Hinweis: „Hier darfst du dich verändern.“ Und vielleicht geht es genau darum in dieser Zeit: nicht in den Strudel der Weltpolitik unterzugehen, nicht im Lärm der Gesellschaft zu erstarren, sondern bei sich selbst Sollbruchstellen zu erkennen. Orte des Loslassens, die gleichzeitig Orte des Werdens sind.


Vielleicht kann ich diesen Text mit diesem Fazit abschliessen, in dem ich möglicherweise aus pädagogischer Sicht versuche die Gelassenheit als eine der wichtigsten Kompetenzen zu betrachten. Zwar schützt die Gelassenheit nicht vor allem, aber sie bewahrt die Fähigkeit, innerlich klar zu bleiben. Ich glaube, wir alle brauchen Sollbruchstellen. Punkte, an denen wir bewusst loslassen. Nicht aus Schwäche, sondern aus Weisheit. Wir können nicht alles halten, nicht alles tragen, nicht alles kontrollieren. So wie das Blatt nicht am Ast bleiben kann, wenn seine Zeit vorbei ist. Und doch ist genau dieser Bruch der Anfang von etwas Neuem. Sollbruchstellen zeigen uns, dass Begrenzung nicht das Ende ist, sondern ein Übergang. Sie sind Einladung, das Alte in Dankbarkeit loszulassen und das Kommende mit Neugier zu erwarten. Vielleicht ist das der eigentliche Sinn von Grenzen: Sie geben uns Halt, indem sie uns zum Wandel ermutigen. In einer Welt, die ständig im Umbruch ist, brauchen wir diesen inneren Kompass. Er erinnert uns daran, dass wir nicht alles mitmachen müssen. Dass wir uns zurückziehen dürfen, um Kraft zu sammeln. Dass Stille genauso wertvoll sein kann wie Aktion. Dass Widerstand manchmal einfach darin liegt, bei sich selbst zu bleiben. Und dass Gelassenheit kein Rückzug bedeutet, sondern die Stärke, nicht im Sturm zu zerbrechen. Sondern bewusst zu entscheiden, wohin wir unsere Energie lenken.

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