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Streitkultur.

  • Daniel
  • 28. Juni
  • 3 Min. Lesezeit

Wortgewandt debattieren vs. einander anschreien. Streiten hat viele Facetten und ist nicht nur negativ. Unser Plädoyer lautet in diesem Beitrag, dass wir an unserer Streitkultur wieder vermehrt arbeiten sollten.

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Ein Streit ist das Auseinandersetzen mit unterschiedlichen Meinungen, meist zwischen mehreren Akteuren oder mindestens zwei Personen. Im Zentrum steht dabei ein Sachverhalt, zu dem unterschiedliche Auffassungen bestehen. Diese entstehen durch verschiedene Weltanschauungen, Wertvorstellungen, Erfahrungen und Meinungen. Im Gegensatz zu einer neutralen Diskussion ist ein Streit oft emotional aufgeladen. Diese Emotionen führen dazu, dass der ursprüngliche objektive Sachverhalt in den Hintergrund rückt, häufig wird nicht mehr über das eigentliche Thema, sondern über Nebenschauplätze debattiert. Besonders in politischen Auseinandersetzungen lässt sich dieses Phänomen gut beobachten. Doch wir alle kennen auch Situationen im beruflichen oder familiären Kontext, in denen eine harmlose Diskussion eskaliert und in einem Streit mündet. Um ein tieferes Verständnis für Konflikte zu gewinnen, hat der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl ein neunstufiges Modell entwickelt, das hilft, Konflikte zu analysieren, zu verstehen und während ihres Verlaufs angemessen zu reagieren. Interessanterweise beschreibt Glasl die Eskalation nicht als Anstieg auf immer höhere Eskalationsstufen, sondern als Abstieg in immer tiefere Formen der Auseinandersetzung. Das Modell lässt sich in drei Hauptphasen gliedern:


1. Win-Win (Verhärtung - Debatte - Taten statt Worte)

In dieser Phase entstehen erste Spannungen; Meinungen prallen aufeinander. Die Konfliktparteien versuchen, die jeweils andere Seite von ihren Argumenten zu überzeugen, gelegentlich auch durch Druck. Es entwickelt sich ein Schwarz-Weiss-Denken. Gespräche werden teilweise abgebrochen, die verbale Auseinandersetzung versiegt und das Mitgefühl für die andere Seite geht verloren.

2. Win-Lose (Koalitionen - Gesichtsverlust - Drohstrategien)

Es geht nicht mehr um die Sache, sondern darum, den Konflikt zu gewinnen. Verbündete werden gesucht, um die eigene Position zu stärken. Der Vertrauensverlust ist komplett. Ein "Gesichtsverlust" bedeutet in diesem Zusammenhang den Verlust moralischer Glaubwürdigkeit. Drohungen und strategische Machtausübung bestimmen das Geschehen.


3. Lose-Lose (Begrenzte Vernichtung - Zersplitterung - Gemeinsam in den Abgrund)

Die Kontrahenten haben jedes Interesse an einer Lösung verloren. Das Ziel ist nun, der Gegenseite empfindlich zu schaden. Selbst die eigene Vernichtung wird in Kauf genommen, solange der andere ebenfalls verliert.


Ist man sich bewusst, auf welcher Eskalationsstufe sich ein Streit befindet, können Deeskalations- und Konfliktlösungsstrategien gezielt eingesetzt werden. Sei es durch externe Moderation, Prozessbegleitung oder auch durch einen klaren, regulierenden Eingriff von aussen. Damit es jedoch gar nicht erst zu solch tiefgreifenden Konflikten kommt, erachte ich es als notwendig, der Streitkultur wieder mehr Gewicht zu verleihen. Politische Debatten sind essenziell, besonders in einer direkten Demokratie. Doch ich wünsche mir, dass unterschiedliche Perspektiven zu einem Thema sachlich, respektvoll und mit echtem Interesse aneinander diskutiert werden. Argumente sollten logisch hergeleitet und Meinungsvielfalt als Bereicherung verstanden werden. Ein zentrales Element für eine gesunde Streitkultur ist das Zuhören. Wirklich zuzuhören bedeutet, den Kern der Aussage der anderen Person zu erfassen. Verstehen heisst dabei nicht automatisch zustimmen. Es bedeutet lediglich, die Argumentation der Gegenseite nachzuvollziehen. Dieses gegenseitige Verständnis schafft eine stabile Basis für einen fruchtbaren Dialog. Offene Fragen sind in diesem Zusammenhang unerlässlich. Sie signalisieren Interesse und helfen, die Beziehungsebene zu stärken. Wer genau hinhört, entdeckt vielleicht sogar überraschende Gemeinsamkeiten. Selbst kleinste Überschneidungen können das Gesprächsklima positiv beeinflussen. Missverständnisse in Diskussionen entstehen oft durch unterschiedliche Werte. In solchen Situationen kann ein Perspektivenwechsel hilfreich sein. Sich selbst zu fragen: "Wie würde ich unter den Umständen und Wertvorstellungen meines Gegenübers argumentieren?". Das fördert Empathie. Dieses bewusste Umdeuten einer Situation, auch bekannt als Reframing, kann zu einem Wandel im Erleben und Verstehen führen. Und damit den Weg für neue Lösungsansätze ebnen.


Streiten bedeutet nicht zwangsläufig zu verletzen. Es bedeutet, sich mit Leidenschaft, Haltung und Offenheit für das Gegenüber auseinanderzusetzen. Wenn wir lernen, Streit nicht als Bedrohung, sondern als Einladung zur Klärung und Weiterentwicklung zu begreifen, kann er uns persönlich und gesellschaftlich bereichern. Philosophisch betrachtet ist der Streit ein Spiegel des menschlichen Daseins: ein ewiges Ringen zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Ich und Du, zwischen Gewissheit und Zweifel. In dieser Reibung liegt das Potenzial zur Erkenntnis. Denn wer sich dem Streit stellt, stellt sich auch dem eigenen Denken und hat die Chance, daran zu wachsen. In diesem Sinne: Frohes Streiten!

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