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Vergessen.

Aktualisiert: 23. Nov.

Ein Text über das Erinnern und darüber, was bleibt, wenn es sich auflöst: Wenn das Gedächtnis verblasst, die Zeit sich verliert und die Frage nach dem Wesen unserer Identität neu gestellt wird.


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Einen früheren Beitrag widmete ich dem Erinnern. Ich sprach über das, was wir festhalten, bewahren, zurückholen können, über Erinnerungen als Ankerpunkte unseres Lebens. Was ich damals bewusst ausgelassen habe, verdient heute Raum: die andere Seite des Erinnerns, das Vergessen. Genauer gesagt: Demenz. Demenz ist mehr als ein medizinisches Thema. Sie ist ein Etwas, das uns direkt oder indirekt irgendwann alle berühren kann. Denn sie nimmt etwas, das wir für selbstverständlich hielten: unser inneres Koordinatensystem. Sie lässt vertraute Dinge fremd werden, bringt Ordnung durcheinander, verwischt die Spuren unserer eigenen Biographie. Für die Betroffenen fühlt es sich an, als würde sich der innere Kompass langsam auflösen. Und für die Angehörigen ist es, als würde jemand, den man liebt, ganz allmählich verschwinden. Noch da, aber geistig wie hinter einem milchigen Schleier. Worte fehlen, Zusammenhänge entgleiten, Routinen zerfallen. Es ist nicht der abrupte Bruch, sondern der stille Zerfall, der so wehtut. Demenz betrifft nicht nur das Gedächtnis. Sie verändert auch das Denken, das Fühlen, das Verhalten. Sie zerlegt das Selbst Stück für Stück. In kleinen, oft kaum greifbaren Etappen. Und doch: Inmitten all dieses Zerfalls blitzen manchmal Momente auf, die zutiefst berühren. Ein Lächeln, ein vertrauter Blick, das Mitsummen eines alten Liedes. Für einen flüchtigen Moment scheint alles wieder da zu sein. Die Erinnerung. Die Verbindung. Der Mensch. Vielleicht ist das die leise Lehre, die in der Demenz liegt: Wie wertvoll der Augenblick ist. Wie fragil unser Bewusstsein. Und wie sehr das Jetzt zählt, wenn das Gestern sich verliert und das Morgen ungewiss wird. Philosophisch stellt Demenz eine der tiefsten Fragen überhaupt: Was bleibt von uns, wenn wir uns selbst vergessen? Sind wir unsere Erinnerungen? Vielleicht ist dieser Kern nicht in Worten zu finden, sondern in Gesten, Berührungen, im Klang einer Stimme, im gemeinsamen Schweigen. Wir alle tragen Bilder von Demenz in uns. Vorstellungen, Ängste, Assoziationen. Doch was viele unterschätzen: Gerade die ersten Jahre einer Demenz sind für Betroffene wie für Angehörige ein ständiger Spagat zwischen „noch können“ und „nicht mehr schaffen“. Ein zermürbender Seiltanz in unsicheren Höhen. Man erkennt sich selbst noch und merkt gleichzeitig, dass etwas entgleitet. Das macht oft wütend. Traurig. Ohnmächtig.


Die Geriaterin und Demenzexpertin Irene Bopp wurde einmal gefragt: „Haben Sie Angst, an Demenz zu erkranken?“ Ihre Antwort: „Eine schwierige Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr Angst davor habe, selbst zu erkranken oder Angehörige einer demenzkranken Person zu sein.“ Denn für Angehörige ist es ein Balanceakt zwischen Nähe und Verlust. Selbst alltägliche Handlungen, beispielsweise das Anziehen von Schuhen, das Finden der Zahnbürste, können zu unüberwindbaren Hürden werden. Der Begriff „Durcheinandertal“ beschreibt vielleicht am treffendsten, was Paare erleben, wenn sich der Alltag auflöst und das gewohnte „Wir“ brüchig wird. „Ich habe noch eine Ehefrau, aber keine Partnerin mehr.“

Dieser Satz stammt von einem Mann, der seit Jahrzehnten verheiratet ist und nun täglich erlebt, wie sich die gemeinsame Geschichte auflöst. Er bringt auf den Punkt, was Demenz bedeuten kann: Der Mensch ist noch da, aber die Beziehung verändert sich tiefgreifend. Und doch: In all dem Chaos, in aller Trauer, bleibt eine Möglichkeit. Die Möglichkeit, neu zu lieben. Nicht mehr für das, was war, sondern für das, was jetzt ist.


Das Nachdenken über diese Krankheit wühlt mich auf. Gleichzeitig bin ich gerührt von der liebevollen Begleitung vieler Angehöriger, wie sie in einer SRF-Dokumentation gezeigt wird. Sie geben ungefiltert Einblick in das Leben von Ehepaaren, die sich gemeinsam neu organisieren. Sich neu arrangieren. Sich neu kennenlernen. Und sie zeigen auch, wie ohnmächtig ein Moment sein kann, wenn das, was immer ging, plötzlich nicht mehr geht. Wie sich die Persönlichkeit der erkrankten Person verändert: leise, aber spürbar.


Neben den schweren Gedanken beeindruckt mich die differenzierte Betrachtungsweise der Angehörigen. Wie viel Hoffnung und Optimismus im Alltag durchschimmern. Wie ein sanfter Sonnenstrahl, der eine Situation für einen Moment aufhellt, trotz all der kräftezehrenden Wirklichkeit. Und doch kehrt die Aussage von Irene Bopp immer wieder zurück: „Eine schwierige Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr Angst davor habe, selbst zu erkranken oder Angehörige einer demenzkranken Person zu sein.“ Diese Worte lassen mich nicht los. Verschiedene Fragen kreisen: Wie gehe ich damit um, wenn in meinem Umfeld jemand an Demenz erkrankt? Welche Aufgaben warten auf mich? Welchen Beitrag kann ich leisten? Ich weiss es nicht. Aber wenn ich eines aus dem Mitdenken mit Irene Bopp mitnehme, dann dies: Ich werde nicht täuschen und nicht beschönigen. Ich werde bestärken, in dem, was noch möglich ist. Und sollte ich irgendwann doch damit konfrontiert werden, als Angehöriger, dann wird es wohl ein Hineingeworfenwerden sein, wie es Martin Heidegger beschreibt: in eine Welt, die mir bisher fremd war. Doch vielleicht gibt es auch dort Erinnerungen, die geteilt werden können. Fröhliche, unbeschwerte Momente, die einen Raum öffnen. Einen Raum, in dem Hoffnung wachsen darf. Und vielleicht liegt genau darin ein leiser Trost: Dass wir auch dann noch verbunden bleiben, wenn Worte verschwinden. Dass Menschsein nicht an das Erinnern gebunden ist, sondern sich zeigt im Blick, in der Geste, im Dasein füreinander.

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